Manege frei!

Musica Bayreuth: Anarchisch, poetisch, berührend – das Orthemis Orchestra unter Jordi Purtí im Zentrum

Musica Bayreuth 2022: Klassik auf die amüsante Art - Orthemis Orchestra - Concerto a tempo d'umore - Europasaal Zentrum - Fotos: Harbach
Wer hat noch nicht, wer will noch mal? - Das Orthemis Orchestra beim Musizieren im Europasaal des Zentrums - Fotos: Harbach

Am Ende stand Dirigent Jordi Purtí in der Tür zum Europasaal und winkte die Besucher des Konzerts mit großen Geste aus dem Saal. Er hatte – mit Verlaub – die Schnauze voll. Rund 75 Minuten war nun sein Orchester mit ihm Schlitten gefahren und er mit ihm. Lachender Dritte im Bunde war das Publikum. Denn dieses hat sich, man darf es wohl attestieren, über das Treiben auf der Bühne köstlich amüsiert. Und exakt das sollte es auch.

Wobei der Slogan „Klassik auf die amüsante Art“ noch eine Untertreibung ist; die zwölf Damen und Herren des Orthemis Orchestras huldigen eher der Anarchie. Einer Anarchie, die sich einerseits aus dem Spiel heraus ergibt, und anderes aus der Tatsache, dass ein Orchester streng nach hierarchischen Prinzipien funktioniert. Weshalb es etwa ganz und gar unmöglich ist, einen fehlenden Orchesterstuhl dergestalt zu ersetzen, indem man von außen noch einen weiteren holt. Nein, zuerst muss natürlich geklärt werden, wessen Stuhl fehlt. Wer also wider besserem Wissens die Impertinenz besessen hat, sich einfach aus dem Reservoire der abgezählten Stühle auf der Bühne zu bedienen. Im Spiel des Orthemis Orchestras entwickelte sich daraus die beliebte und allseits bekannte „Reise nach Jerusalem“. Und auf einmal war nicht mehr wichtig, wer wo sitzt, sondern nur noch, das man überhaupt saß. Das große Hallo auf der Bühne hatte erst ein Ende, als der Dirigent enttarnt wurde, selbstredend auf einem Stuhl sitzend. Für einen kurzen Moment war Schluss mit lustig, das Orchester funktionierte wieder. Allerdings nicht lange. Weil man sich seitens des Konzertmeisters und des Dirigenten nicht recht einig war; das „Ave Maria“ Gounods gegen selbiges von Schubert. Die Auseinandersetzung wurde heftig, wurde handgreiflich, das Orchester folgte jeweils dem, der den Stab gerade in der Hand hatte. Das war höchstvergnüglich anzusehen, weil einfach gut gemacht.

Augenfällig war dabei, dass all die kleinen Szenen, die das Orthemis Orchestra in seinem Programm „Concerto a tempo d‘umore“ darbot, dem Orchesteralltag entnommen sind. Ja, es gibt Musiker, die während der Probe einschlafen, ja, es gibt Mobiltelefone, die während der Probe klingeln, ja, es gibt auch Orchestermusiker, die akkurat auf die Einhaltung der Dienstzeiten achten und diese auch anmahnen. Und auch die Tatsache, dass man unliebsame Dirigenten seitens des Orchesters gerne mal auflaufen lässt, ist bekannt.

Im Spiel des Orthemis Orchestras wurden daraus höchst possierlich anzuschauende und –hörende Geschichten, gerne auch mal anarchisch unterfüttert. Da klingelte eben dann bei Purtí das Mobiltelefon, wodurch der fünfte ungarischer Tanz Johannes Brahms, den er gerade dirigierte, nunmehr dem Diktat seines Zeigefingers, der über das Telefon wischte, unterworfen wurde. Eine herrlich schräge Nummer.

Oder da übergab Purtí, genervt von seinem unbotmäßigen Orchester das Dirigat an eine Dame aus dem Publikum. Eine kurze Einweisung, ein aufmunterndes Lächeln – es wird schon klappen. Es klappte natürlich nicht, denn das Orchester ließ die Muskeln spielen und die Arme auflaufen. Allerdings nur solange, bis Purtí der Ersatzdirigentin buchstäblich unter die Arme griff und ihre Hände führte. Das Orchester folgte dem Stab, es erklang Beethovens berühmte „Ode an die Freude“. Ein Ohrenschmaus war diese nicht, Purtí dennoch entzückt. Ein Küsschen auf die Wange, eine dezente Umarmung – die Dame war scheinbar entlassen. Doch jetzt wollte das Orchester auch, denn nach Küsschen und Umarmung stand plötzlich jedem und jeder der Sinn. Kurz, die Zwölf enterten das Auditorium und kurze Zeit später saß ein zweites, ein anderes Orchester auf der Bühne. Und spielte tatsächlich auch. Beethovens „Ode an die Freude“. Eine fantastische Nummer, poetisch und berührend zugleich. Und natürlich auch Gesprächsstoff für die anstehende Pause.

Nach dieser fand man sich übrigens im Kino wieder: Heiteres Filmeraten war angesagt, das Orchester lieferte den entsprechenden Soundtrack. Eine kleine Zeitreise durch die Filmgeschichte, inklusive entsprechender Animation durch die einzelnen Orchestermitglieder. Da durfte jede und jeder einmal ran, entsprechend vielfältig präsentierte sich die Filmauswahl. Das war ohne Frage gut gemacht, sehr unterhaltsam, aber an die Güte des ersten Teils des Programms reichte man nicht heran.

Dafür entschädigte dann wieder der Schluss dieses doch etwas anderen Konzertabends: Der berühmt-berüchtigte Radetzky-Marsch von Johann Strauss (Vater). Selbstverständlich – wie sollte es anders sein? – in Tradition der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker. Weshalb man seitens des Orchesters kurzerhand eine Probe ansetzte. Und das Auditorium unter dem strengen Blick Purtis zunächst einmal übte: kleine Sequenzen, große Sequenzen, schließlich der Marsch in Gänze. Ein Heidenspaß. Kein Wunder, dass danach niemand einfach so gehen wollte. Da musste, dem Beifallssturm zum Trotz, Purtí schon die Türe weisen.

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